Interview Dr. Sabine Kiefer

In dem Behandlungsansatz der Integrativen Kinder- und Jugendpsychosomatik kombiniert sie Methoden aus der Systemischen Therapie, der Tiefenpsychologischen Therapie und der Verhaltenstherapie – immer auf die individuelle Situation eines jeden Kindes abgestimmt.

Gründerin der Integrativen Kinder- und Jugendpsychosomatik-Praxis
www.ikjp-alstertal.de

1. Du bist so eine großartige engagierte und aktive Frau. Du warst Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychosomatik am Altonaer Kinderkrankenhaus gewesen und hast dich nun mit Deiner eigenen Praxis im Hamburger Alstertal niedergelassen. Woher nimmst Du die Energie? Hattest Du bereits als Kind den Wunsch, anderen Kindern zu helfen?

Vielen Dank. Ja, tatsächlich habe ich selbst immer schon als kleines Mädchen meine Puppen, Stofftiere, ja sogar Spielzeugautos verarztet und überall Pflaster draufgeklebt, alles mit Verbänden umwickelt und beruhigt und getröstet. 

Während meines Medizinstudiums und der Facharztausbildung hat sich mein Interesse an der Seele kleiner Menschen verfestigt. Bindung war hier für mich ein zentrales Thema: Wie Bindungsverhalten wesentlich zum Verständnis der kindlichen Entwicklung über das gesamte Leben hin beiträgt.

Während meiner klinischen Tätigkeiten entstand der Wunsch, Kindern, Jugendlichen und ihren Familien nicht nur leitliniengerecht, sondern auch selbstbestimmt und mit ausreichend Zeit zur Verfügung stehen zu können. Das war der Antrieb, in die Selbstständigkeit zu gehen. Dafür brauchte es ausreichend Platz und geeignete Räumlichkeiten. Die habe ich in Sasel gefunden und so hergerichtet, dass man sich mit all seinen Sorgen nicht nur emotional, sondern auch räumlich gut aufgehoben fühlen darf.

Ich persönliche tanke immer auf in der Natur. Ich liebe es, draußen zu sein, am liebsten am Wasser, und das bei jedem Wetter: Sonnenschein, blauer oder grauer Himmel, Wolken, Regen, Wind … letztendlich sind unsere Gefühlslagen innerhalb des Lebens doch genauso herausfordernd wie das Wetter, und das darf auch so sein. 

2. Fast 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland erkranken innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. Kannst Du uns benennen, was die häufigsten Störungen sind?

Ich denke, Angststörungen und depressive Episoden nehmen zu. Viele Heranwachsende sind niedergestimmt, ziehen sich zurück, sind lustlos, überfordert und können ihren Alltagsanforderungen nicht mehr nachkommen. Aber auch Unkonzentriertheit in der Schule oder der erste Liebeskummer können sehr zu schaffen machen. Somatoforme Störungen sind ebenfalls auch schon bei Kindern immer häufiger zu finden: Kopfschmerzen, wiederkehrende Übelkeit, Bauchschmerzen, Schwindel und Schlafstörungen. Das sind Störungen des subjektiven Empfindens ohne objektiven Befund.

Der Ausnahmezustand der Coronapandemie mit Homeschooling und Isolation hat zudem zu viel Verunsicherung geführt, plötzlich war nichts mehr, wie es war:

Kinder und Jugendliche berichten mir, wie wütend und traurig sie auf das Virus sind und was es mit ihnen und ihrem Alltag gemacht hat: Sie konnten nicht mehr zur Schule gehen, ihre Freunde dort und in der Freizeit treffen, Sport in Gruppen nicht mehr ausüben, mussten Hygieneregeln einhalten und konnten mit dem Mundschutz ihr Gegenüber ohne Mimik nicht lesen. Alles, was Freude gemacht hat, aber auch Halt gegeben hat, fiel weg.

Das war für alle Familienmitglieder eine enorme Herausforderung. Wichtig ist, dass diese Gefühle von Wut, Traurigkeit, Verunsicherung und Angst Raum haben und Gehör finden dürfen und ernst genommen werden.

3. Welche Behandlungsmöglichkeiten bietest Du an? 

Da ich sowohl eine verhaltenstherapeutische als auch tiefenpsychologische und systemische Ausbildung genossen habe, biete ich je nach Bedarf das an, was jeweils angezeigt ist. Integrativ bedeutet für mich nicht nur, verschiedene Therapieansätze bedarfsgerecht individuell einzusetzen, sondern auch das Umfeld wie Familie, Freunde, Schule und Freizeit miteinzubeziehen, genauso wie den multiprofessionellen Austausch mit Fachdisziplinen innerhalb und außerhalb der Praxis.

Deshalb heißt die Praxis „Integrative Kinder- und Jugendpsychosomatik im Alstertal“, was es so in der Begrifflichkeit bislang noch nicht gibt und die verschiedene Spezialsprechstunden anbietet.

Ich persönlich frage meine jungen PatientInnen immer gerne „Was würdest du machen, wenn du ein Loch im Zahn hast?“ „Zum Zahnarzt gehen“ lautet dann meist die Antwort. „Ja, genau, aber warum stopfst du das nicht selbst?“ „Weil ich nicht weiß, wie das geht und das nicht gelernt habe!“

Ich denke, das trifft es ganz gut. Wenn Heranwachsende oder ihre Eltern ein Problem haben, was man ja von außen nicht sieht, ist es gut, sich professionelle Hilfe zu holen und diese auszuprobieren. Und das gilt auch schon für die ganz Kleinen, wenn Babys anhaltend schreien, nicht richtig essen oder schlafen mögen. 

Ich persönlich frage meine jungen PatientInnen immer gerne „Was würdest du machen, wenn du ein Loch im Zahn hast?“ „Zum Zahnarzt gehen“ lautet dann meist die Antwort.

4. Was ist Dein Tipp für eine entspannte Familien Work-Life-Balance?

Ich finde wichtig, dass die Familie miteinander im Austausch bleibt, um wirklich zu wissen, was den anderen gerade beschäftigt. Ich bin daher ein großer Fan von Familienkonferenzen. Einmal wöchentlich treffen sich alle Familienmitglieder (meist bietet sich der Sonntagmorgen beim Frühstück an). Dort kann zum einen besprochen werden, was in der kommenden Woche organisatorisch ansteht, aber auch, was in der vorangegangenen Woche gut lief und was eben nicht. Jeder darf so viel und so wenig sagen, wie er möchte, es gibt kein Richtig oder Falsch. Einzige Regel ist, ausreden zu lassen und nichts zu bewerten.

Kinder lernen so einen Zugang zu eigenen Gefühlen und sie zu verbalisieren. Sie üben, eigenen Bedürfnisse zu spüren und zu formulieren. Sie verstehen sich selbst besser und werden besser verstanden.

Und natürlich gemeinsame Unternehmungen als gesamte Familie, schwimmen gehen, radeln zu einem Ausflugsziel, gemeinsam backen, Spiele spielen, um nur Einiges zu nennen. Gute Zeiten abseits des Alltagsstresses miteinander zu verbringen, das tut allen in der Familie gut.

5. Was macht Dir an Deinem Job am meisten Freude?

Ein Schiff ist im Hafen am sichersten. Aber dafür wurde es nicht gebaut. Wenn ein Baby anfängt zu krabbeln, macht es sich schon auf den Weg, die Welt zu entdecken. Ich möchte Heranwachsende dabei unterstützen, stabil und sicher durch die ständigen Veränderungen des Lebens zu segeln. Kinder spielen aber nicht nur mit großer Begeisterung beruflich die Hauptrolle in meinem Leben, sondern auch immer noch meine mittlerweile erwachsenen eigenen Zwei!

Vielen Dank für das herzliche Gespräch.

Bilddaten: © Sabine Kiefer, Praxis für Integrative Kinder- und Jugendpsychosomatik in Hamburg im Alstertal