Unterwegs im Land der Gefühle

Gefühle sind zum Fühlen da – wie Eltern auf die Gefühle ihres Kindes eingehen können

In ihrer Unmittelbarkeit konfrontieren uns Kinder oft mit der vollen Wucht unverstellter Gefühle. Freude, Trauer, Liebe oder Wut brechen sich Bahn. Damit wecken die kleinen Menschen auch in uns Emotionen und führen uns manchmal in ein Gefühlslabyrinth, in dem wir uns selbst kaum noch zurechtfinden. Wie sollten wir als Eltern damit umgehen? Dürfen diese Gefühlsausbrüche sein?

Ben, drei Jahre alt, liegt mit weit aufgerissenen Augen im Bett und ist wach. Sein ganzer Körper zittert, im Bauch hat er ein komisches Gefühl. War da nicht etwas in der dunklen Ecke des Zimmers? War da nicht ein Geräusch? Zum Glück kommt Bens Mutter, um noch einmal nach ihm zu sehen. „Du brauchst doch keine Angst zu haben! Bei uns ist alles in Ordnung. Jetzt schlaf aber mal!“ Mia muss weinen. So lange sie auf der Welt ist, hat ihr Wellen-
sittich sie mit seinem munteren Gesang unterhalten, ist auf ihrer kleinen Hand gelandet und hat sich von ihr am Hals kraulen lassen, was er so gerne mochte. Heute Morgen nun lag er leblos auf dem Boden des Käfigs und rührte sich nicht mehr. „Du musst nicht traurig sein“, hat ihr Vater gesagt, „Wellensittiche werden selten älter als sechs bis acht Jahre. Und die hatte er längst auf der Uhr.“ Mit seinen vier Jahren kann Jonas ganz schön wütend werden. Gerade will er mit den Duplo-Steinen einen großen Turm bauen, so hoch wie der von seinem älteren Bruder Tom. Aber immer wieder fällt sein Turm kläglich um, will einfach nicht halten, ganz oft hat er es schon versucht. Da läuft Jonas‘ Gesicht rot an, er springt auf, schreit und tritt alles kurz und klein. Auch das Bauwerk von Tom. Im selben Moment fliegt die Tür auf, und Opa kommt ins Zimmer. „Jetzt hab ich aber die Nase voll“, schreit er noch lauter, „Du immer mit deinen Wutanfällen! So ärgerlich darfst du nicht sein!“

Eltern und Großeltern fällt es nicht immer leicht, die Gefühlslagen ihrer Kinder zu ergründen und zu verstehen. Manchmal fehlen Zeit und Geduld, sich auf die Kleinen einzulassen und ihre Gefühlsausbrüche auszuhalten. Auch möchten Erwachsene ihre Kinder gerne vor vermeintlich negativen Emotionen bewahren. Und dann werden diese vielleicht leichtfertig negiert oder bagatellisiert: Du musst nicht ängstlich, traurig, wütend sein … Dabei sind alle Gefühle immer wichtig, auch die der Kinder, und sie haben in unserem Leben eine bedeutende Funktion. In der Regel ermöglichen Emotionen uns das schnelle und intuitive Einordnen von Situationen. Sie definieren unseren Bezug zu einzelnen oder Gruppen von Menschen und zur Welt im Allgemeinen, und sie wecken unsere Handlungsbereitschaft. Oft haben wir ein Bauchgefühl, das uns einen unmittelbaren Eindruck davon verschafft, wie etwas ist und was zu tun ist. Mit emotionaler Intelligenz bestehen wir auch schwierige soziale Herausforderungen in der Familie, im Verein oder am Arbeitsplatz. So prägen Gefühle auf sinnvolle Weise unser Leben. Ben „fühlt“, dass dunkle Ecken, die man nicht einsehen kann, manchmal ungute, bedrohliche oder einfach erschreckende Überraschungen bereithalten. Angst schützt uns vor Gefahren, eine erhöhte Anspannung und Aufmerksamkeit ermöglicht uns die spontane Abwehr. Mia „weiß“, dass der Tod ihres geliebten Vogels eine Lücke in ihrem Leben hinterlässt. Die durchlebte Trauer hilft ihr, den Verlust zu verarbeiten. Und Jonas „spürt“, dass die Welt gerade ungerecht ist, seine Wut gibt ihm Kraft und spornt den Ehrgeiz in ihm an. Insofern ist die Aufteilung in „positive“ und „negative“ Gefühle unsinnig. 

​Manchmal schießen wir mit unseren Affekten aber auch über das Ziel hinaus. Gefühle sind eben nicht rational, können uns täuschen. Der emotionale Seismograph ist sensibel und störanfällig. So wissen wir (hoffentlich) alle, dass Liebe blind machen kann und Wut ebenfalls. Unreflektierte Angst lähmt, Scham verunsichert. Gefühle können uns überwältigen, andere verletzen und selbst verletzbar machen. Ängstliche, traurige und erst recht wütende Kinder sind eine Herausforderung, manchmal stellen sie für ihre Eltern und Erzieher eine Überforderung dar. Vielleicht neigen wir Erwachsenen auch deshalb dazu, Gefühle eher zu unterdrücken, sie möglichst nicht zu zeigen – und den Kindern auszureden: Du musst nicht ängstlich, traurig, wütend sein … Der große polnische Pädagoge Janusz Korczak schrieb einst aus der Perspektive eines Kindes: „Sie erlauben einem nicht, traurig zu sein. Werden einem so lange auf die Pelle rücken, bis aus einem Traurigen ein Wütender wird.“ Ja, das kann passieren, denn unterdrückte Gefühle sind nicht einfach weg. Sie leben im Untergrund weiter, lösen weitere, manchmal widersprüchliche Affekte und Verhaltensweisen aus. 

Was brauchen also Kinder, wenn sie Gefühle erleben, als Antwort von uns Erwachsenen? Sie sollten vor allem darin unterstützt werden, ihre verschiedenen Gefühle bewusst kennenzulernen und ernst zu nehmen. Das geht am besten, wenn Eltern sich selbst in ihrem Innenleben auskennen. Und wenn sie sich Zeit nehmen, um mit ihren Kindern über das augenblickliche Gefühl zu sprechen, ihnen Resonanz geben, etwa die Botschaft: Ich merke, wie wütend es dich macht, dass dein Turm immer wieder umfällt. Dein Gefühl ist in Ordnung, das kenne ich auch. Vielleicht lassen sich bestimmte Symbole, Spielzeuge oder Kuscheltiere finden, die das Gespräch erleichtern: Das ist das kleine Angstmonster, das sich manchmal zu Wort meldet und beachtet werden will … Mit dem Wissen, welche Emotionen sich wie anfühlen und was in einem auslösen, lernen Kinder, ihnen nicht hilflos ausgeliefert zu sein und sie in der Folge nicht einfach auszuagieren. Mit der richtigen Unterstützung werden die Kinder vielmehr in die Lage versetzt, ihre Affekte zu regulieren. Denn Gefühle zu akzeptieren, heißt nicht, auch das resultierende Verhalten gutzuheißen. Dass Jonas in seiner Wut das Bauwerk seines Bruders zerstört hat, verdient ein klares Stopp: Es ist nicht in Ordnung, dass Du Toms Turm kaputtgemacht hast! Hier geht es um die Trennung von Gefühl und Verhalten. Im besten Fall lässt sich die emotionale Energie in ein verändertes Handeln überführen: Was könnten wir tun, damit auch dein Turm hält? 

Wenn Kinder lernen, ihre Gefühle zu reflektieren und zu regulieren, dann werden Emotionen zu wichtigen Wegweisern und Kraftquellen in ihrem Leben. Zum Fühlen kommt das Denken, und beides mündet im Gestaltungswillen – der Ambition, dem Leben und der Welt eine bewusste Prägung zu verleihen.

Text: Sebastian Conradt, Dipl.-Sozialpädagoge bei SOS-Kinderdorf Hamburg
Bildcredits: © annie-spratt, © pexels-maksim-goncharenok, © ian-dooley-6hXjibNzCig-unsplash